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„Merkel kann helfen und Scholz sollte einen Kriegsgipfel einberufen“: Ukraine-Botschafter mit neuen Forderungen

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Von: Klaus Rimpel, Georg Anastasiadis, Christian Deutschländer

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Bild von Ukraine-Botschafter Andrij Melnyk
„Wir müssen schon auch die deutsche Ruhe stören“, sagt Botschafter Andrij Melnyk, dem vorgeworfen wird, oft nicht diplomatisch genug zu sein. © Soeren Stache

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk spricht im Interview über Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg und die Kritik an seiner Person.

München – In Berlin nennen sie ihn den „Wutdiplomaten“: Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk polarisiert mit seinen klaren Worten und seiner oft wenig diplomatischen Kritik an der Bundesregierung und vor allem an der SPD. Unsere Zeitung sprach mit Melnyk über die Kritik an seiner Person, die Erwartungen an Deutschland – und mögliche Auswege aus dem Krieg.

Herr Dr. Melnyk, Sie haben die Rede Putins sicher mit großer Spannung verfolgt. Gab es eine Stelle, an der Sie überrascht waren?

Andrij Melnyk: Es war eine sehr fade Rede. Zwischen den Zeilen konnte man herauslesen, dass Putin einräumen musste, dass er diesen Krieg nicht mehr gewinnen kann. Aber leider Gottes war seine Hauptbotschaft, dass er weitere Opfer in Kauf nehmen wird und dass wir uns auf einen langen, blutigen Krieg einstellen müssen.

Sie sahen also keinerlei Hoffnungsschimmer in dieser Rede?

Melnyk: Nein. Manche hier in Deutschland sahen es ja schon als positives Zeichen, dass Putin keine Generalmobilmachung verkündete. Aber der Kern dieser merkwürdigen Rede war doch, dass er an seinem Ziel festhält, die Ukraine als Staat zu zerstören und das ukrainische Volk zu vernichten.

Kann es mit Putin noch eine Verhandlungslösung geben?

Sehen Sie überhaupt eine Chance, mit Putin noch zu einer Verhandlungslösung zu kommen?

Melnyk: Natürlich, jeder Krieg wird am Verhandlungstisch beendet, der russische Angriffskrieg ist hier keine Ausnahme. Doch im Moment ist die Chance dafür leider sehr gering. Denn Putin will bislang mit meinem Präsidenten nicht reden. Und alle Vermittlungsbemühungen, auch unter deutscher Beteiligung, liefen bislang ins Leere. Das bedeutet für uns: Nur wenn wir ihm auf dem Schlachtfeld die Grenzen aufzeigen, nur dann wird sich Putin für Verhandlungen öffnen.

Können Sie sich vorstellen, dass die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel die Vermittlerrolle in diesem Konflikt übernehmen könnte?

Melnyk: Warum nicht. Aber leider hat Frau Merkel ja offenbar beschlossen, sich nicht mehr in die aktive Tagespolitik einzumischen. Wenn sie jedoch das Gefühl haben sollte, uns helfen zu können, diesen teuflischen Krieg zu beenden, ist sie natürlich herzlich willkommen – zumal sie ja ein jahrzehntelanges sehr vertrauliches Verhältnis zu Putin gepflegt hat.

Sind Sie eher erfreut, dass sich die Bundesregierung bei den Waffenlieferungen bewegt – oder eher enttäuscht, dass sich so wenig bewegt?

Melnyk: Beides. Die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz und die Entscheidung des Bundestags, schwere Waffen in die Ukraine zu liefern, haben sicher historisches Format. Aber über die Umsetzung sind wir nach wie vor traurig. Wir haben die Anträge für die Lieferung von Marder- und Leopard-Panzern sowie anderer Waffen vor drei Wochen eingereicht und warten nach wie vor auf grünes Licht vonseiten des Bundeskanzleramts. Wir wünschen uns nicht nur ältere, ausgemusterte Waffensysteme. Dieser Krieg kann nur gewonnen werden, wenn wir auch modernstes deutsches Kriegsgerät bekommen. Und wir brauchen das ohne Verzögerung. Derzeit werden wir von Pontius zu Pilatus geschickt, von einem Ministerium zum anderen. Unsere Bitte an den Kanzler ist deshalb, dass er einen Kriegsgipfel im Kanzleramt mit Vertretern der deutschen Rüstungsindustrie einberuft, um zu beraten, wie die eine Milliarde Euro für schwere Waffen schnellst- und bestmöglich eingesetzt werden kann.

Zwei Gefühle dominieren bei uns: große Hilfsbereitschaft, aber auch die Sorge, in einen Krieg reingezogen zu werden. Wie nehmen Sie die Stimmung in Deutschland wahr?

Melnyk: Ja, es gibt diese Welle der Unterstützung in allen Schichten. Wir sind dankbar, wie barmherzig hunderttausende Ukrainer in Deutschland aufgenommen wurden. Und ich verstehe auch das Dilemma unserer deutschen Freunde. Keiner will in einen Krieg hineingezogen werden oder einen Atomschlag Putins provozieren. Aber ich glaube, da wird Angstmacherei betrieben. Zum Teil auch auf der politischen Ebene in Berlin. Die Wahrheit ist: Man kann diesen Krieg nur stoppen, indem man militärisch Putin und seine Schergen in die Schranken weist. Das sollte auch die Bundesregierung so klar den Menschen sagen, sie ermutigen.

Das sagt der Ukraine-Botschafter Andrij Melnyk zur Kritik an seiner Person

Die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit ist kippelig. Viele sagen: Dieser Botschafter ist zu grob. Würden Sie den Kanzler noch mal „beleidigte Leberwurst“ nennen?

Melnyk: Es geht nicht um Rhetorik oder den Reichtum der deutschen Sprache, die ich so sehr liebe. Sondern es geht darum, den Menschen in Deutschland den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Meine bescheidene Rolle als Botschafter: Ich mache nur deutlich, dass ganz Europa mit dem brutalsten Krieg seit 77 Jahren zu tun hat und dass diese Aggression nur gemeinsam zu stoppen ist. Ein faschistisches Russland will nicht nur die Ukraine zerstören, sondern die europäische Friedensordnung in Schutt und Asche legen. Wenn wir Putin nicht jetzt aufhalten, droht den Menschen in vielen europäischen Städten das schreckliche Schicksal meiner Landsleute in Butscha.

Trotzdem verstören Sie auch Ihnen Wohlgesinnte. Kein Anlass für Sie zur Selbstkritik?

Melnyk: Ich bin Diplomat seit 25 Jahren. Jetzt vertrete ich ein Land, das im Krieg ist. Ja, ich bin selbstkritisch. Jeden Tag frage ich mich dutzende Male: Ist das angemessen, was wir hier tun? Besser mal die Klappe halten? Bisher bin ich mir sehr sicher: Wir müssen schon auch die deutsche Ruhe stören, manchmal auch provozieren. Wir müssen widersprechen, wenn uns Leute sagen, die Ukraine sollte sich am besten ergeben, und dann höre der Krieg schon auf.

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Wie haben wir uns Ihren Kontakt zu Präsident Selenskyj vorzustellen? Täglich Telefonate, SMS?

Melnyk: Ja, so. Täglich stimmen wir uns ab mit dem Präsidenten, seinem engsten Kreis. Und zwar an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr. Mein Präsident interessiert sich sehr für Deutschland und die Debatte hier. Er hat auch noch mal klar die Einladung an den Bundespräsidenten und den Bundeskanzler ausgesprochen, nach Kiew zu kommen.

Und – kommt Scholz?

Melnyk: Es ist an der Zeit. Schade, dass das am 9. Mai noch nicht gelungen ist. Das wäre eine historische Chance für den Bundeskanzler gewesen, in Kiew Flagge zu zeigen. Ich hoffe, dass er das so schnell wie möglich nachholt. Es gibt keine Hindernisse mehr, keine Vorwände, alle Irritationen wurden ausgeräumt.

Sie haben Familie in der Ukraine. Was hören Sie? Sind sie in Sicherheit?

Melnyk: Der größte Teil der Familie um mein Schwiegervater sind in Kiew geblieben. Die Stimmung ist etwas besser als vor einigen Wochen, als Kiew direkt bedroht wurde. Ein weiterer Teil, darunter meine Mutter, ist in Lemberg in der Westukraine. Hier gibt es Raketeneinschläge, die Lage ist aber etwas sicherer. Ein kleiner Teil der Familie ist bei mir in Berlin. Und es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht fragen: Wann können wir in unser Land, zu unseren Liebsten, unserem Leben zurück?

Was antworten Sie?

Melnyk: Dass es Hoffnung gibt. Ich bin dankbar, dass sich die deutsche Politik – wenn auch nur langsam – in die richtige Richtung bewegt: die Lieferung schwerer Waffen, die Hilfe für Binnenflüchtlinge in der Ukraine, und auch die Aussicht auf einen EU-Beitritt. Ich lese, dass über 60 Prozent der Deutschen für eine EU-Vollmitgliedschaft der Ukraine sind. Genau diese Mehrheit wünsche ich mir auch im politischen Berlin, bei der Ampel und bei CDU/CSU. Das wäre das größte Geschenk für meine Landsleute.

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