Häufig sei es auch ein persönliches Erlebnis. Zach hat mal, erzählt er, eine Wiese im kirchlichen Besitz etwas aufmöbeln lassen, damit Kinder da spielen konnten. Von da an hatten Anwohner plötzlich Fußbälle, die gegen ihre Wände donnerten. Sie beschwerten sich, doch Zach wollte den Kindern den Platz zum Spielen geben. Die Anwohner waren sauer und traten aus. So wenig reicht manchmal, um die Kirche zu verlassen.
Aber größer wiegt der Frust. Der, erklärt Zach, sitze bei vielen tief: Frauen, Zölibat, Sexualmoral und Klerikalismus. Und er versteht das. Er selbst sieht auch vieles anders und umso bitterer muss es sein, die Austritte deswegen zu sehen. „Wir hocken zusammen auf dem Schiff und genießen den Komfort, die Vorteile der Plattform“, zeichnet Zach. Die Kirche als Schiff, das ist kein neues Bild, aber Zach gibt ihm eine andere Konnotation: „Ich kann zwar nichts dafür, was der Kapitän macht, aber ich bin auch auf dem Schiff, ich kann mich da nicht rausnehmen.“
Denjenigen, die vor 500 Jahren auf dem Schiff meuterten und sich mit dem ähnlich großen Beiboot davon gemacht haben, geht es kaum besser. Die evangelische Kirche hat die Probleme, die die Themen Sexualmoral, Zölibat und die Rolle der Frau mitbringt, nicht. Auch Missbrauch ist nicht so omnipräsent wie bei den katholischen Kollegen. Aber die Austrittszahlen sind dennoch auf Rekordhoch. Die Briefe, die die Rosenheimer Dekanin Dagmar Häfner-Becker unterschreibt, sind ein wenig anders als die der katholischen Kollegen, aber im Grundsatz ähnlich: Wir respektieren Ihre Entscheidung, wir würden gerne in einen Dialog treten, die Tür zurück steht immer offen.
„Für mich wäre es gut, nochmal zumindest zwei Sätze mit den Austretenden gewechselt zu haben“, sagt die Dekanin. Nicht um sie zu überreden, sondern um zu verstehen. Der Austritt erfolgt ja nicht im Pfarr-, sondern im Standesamt. 25 Euro und der lebenslange Bund ist beendet. Das ist ein bisschen wie eine Scheidung per SMS – nur etwas teurer.
„Manchmal bekommen wir eine Antwort, aber ganz selten“, erzählt Häfner-Becker. In den Gesprächen erfahre sie ganz unterschiedliche Gründe, selten seien es personen- oder anlassbezogene. Auch eine Abkehr vom Glauben komme nicht oft vor. Das Problem liegt woanders.
Ihre Beobachtungen werden von einer Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gestützt. Laut dieser treten die allermeisten ohne Anlass aus. Nur ein Fünftel gibt an, einen konkreten Anlass gehabt zu haben. Bei den ehemaligen Katholiken sind es immerhin 37 Prozent. Häfner-Becker glaubt, dass es an der Kommunikation liegt. Individualismus würde heute anders gelebt, stelle Menschen vor neue, große Herausforderungen, die die Identität, das „Wer bin ich“, betreffen. Darauf müsse man anders antworten als bisher. Der Inhalt der Antwort bleibt freilich gleich: „Ich würde hier nicht arbeiten, wenn ich nicht glauben würde, wir könnten Viel und Gutes anbieten“, sagt Häfner-Becker.
Dieses Angebot werde zu oft auf Gottesdienste und Riten reduziert, dabei liegt ihre Hauptarbeit woanders: „Das hat man bei Corona auch gemerkt, da ging es immer um die ausgefallenen Gottesdienste, dabei geht es doch um Seelsorge, das spirituelle Begleiten.“
Und das Zeitgeschehen schreit eigentlich nach spiritueller Begleitung: Pest und Krieg – Dinge, die in Europa ausgerottet schienen, sind wieder auf der Tagesordnung. Und dennoch profitieren die Kirchen nicht davon. Im Gegenteil, mehr und mehr Menschen empfinden Religion als nicht wichtig. Pfarrer Zach zeigt auf eine Umfrage: Vor 20 Jahren war das anders, da sah die Mehrheit der Deutschen Religion als wichtig an - für sich, für die Gesellschaft im Allgemeinen. Nun sind es nur noch 20 Prozent.
Wachstum lässt sich aber bei den Freikirchen finden: Der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BfP) etwa vermeldet ein stetiges, starkes Wachstum: In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Anzahl der Mitglieder verdoppelt. Über 60.000 Mitglieder zählt der BfP – Tendenz steigend. Die Gemeinschaften in Freikirchen sind oft enger, aber auch strikter, mit klaren Verboten und Handlungsanweisungen.
Das zieht Menschen an, aber ist für Zach keine Alternative: „Kirche soll nicht diese Enge haben“, sagt er und fügt an: „Ich bin da lieber Teil einer weltoffenen Minderheit.“ Auch Häfner-Becker will eine offene Kirche, die sich durch Haltung auszeichnet. Volkskirche sei nicht nur eine Frage von Mitgliederzahlen, sondern es gehe darum, eine Haltung mit in die Gesellschaft einzubringen: Etwa, dass jeder Mensch wichtig sei, nicht nur ich oder der Bruder im Geiste. Die Kirchen in Deutschland lebten das, da sind sich Zach und Häfner-Becker einig. Im gesellschaftlichen Diskurs oder aber in Alten- und Pflegeheimen, in den Spenden für Bedürftige, dem Engagement für Kultur oder eben in den Kitas. Alles Gründe, in der Kirche zu bleiben. Aber eigentlich, sagt Pfarrer Zach, gäbe es nur einen: „Weil ich einen Sinn in Kirche sehe.“