Erdbeben in Fukushima: Wie groß ist die Gefahr einer nuklearen Katastrophe?

Elf Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima wird die Nord-Ostküste Japans wieder von einem schweren Erdbeben erschüttert. Wie groß ist die Gefahr heute?
Fukushima – Ein schweres Erdbeben vor der Küste Japans hat am Mittwoch (16.03.2022) schlagartig Erinnerungen an die Reaktorkatastrophe im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi im Jahr 2011 geweckt. Das Beben der Stärke 7,4 erschütterte die Küstenregion und weite Teile Japans fast auf den Tag genau elf Jahre nach der Nuklearkatastrophe. Das verheerende Beben, das den gewaltigen Tsunami lostrat und damit der Anstoß der Katastrophe war, war mit der Stärke 9,0 nochmal deutlich gewaltiger, als es in diesem Jahr war.
Dennoch versetzte auch die aktuelle Erschütterung, die bis ins 250 Kilometer entfernte Tokio zu spüren war, die japanischen Behörden wieder in Alarmbereitschaft. Eine Tsunami-Warnung konnte aber bereits nach wenigen Stunden durch die Wetterbehörde zurückgenommen werden. Vor elf Jahren riss die Flutwelle etwa 18.500 Menschen in den Tod und löste im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi den Super-GAU aus*. Über 100.000 Menschen mussten ihr Zuhause verlassen, viele konnten bis heute nicht in die Geisterstadt neben dem Atomkraftwerk zurückkehren*.
Der Kraftwerkbetreiber Tepco teilte in der Nacht zum Donnerstag (17.03.2022, Ortszeit) mit, Unregelmäßigkeiten oder Probleme in Fukushima Daiichi prüfen zu wollen. Und Nuklearingenieur Toshio Kimura warnte schon im vergangenen Jahr, dass es in Japan durchaus erneut zu einer Nuklearkatastrophe kommen könne* – weil die Atomkraft-Betreiber unzuverlässig seien und Sicherheitsstandards vernachlässigen würden. Doch wie groß ist die Gefahr heute wirklich?
Schweres Erdbeben in Japan: Zwischenfälle im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi
Am Morgen nach dem heftigen Erdbeben hatten die japanischen Behörden zunächst einmal Entwarnung geben – es habe im Atomkraftwerk keine größeren Unregelmäßigkeiten gegeben. Und das, obwohl die Folgen des Bebens in weiten Teilen des Landes am Donnerstag nach und nach sichtbarer wurden. Es entstanden Risse in Autobahnen und Straßen, in Läden fielen Waren aus den Regalen, in Wohnungen stürzte die Einrichtung in sich zusammen und zahlreiche Häuser wurden beschädigt, wie Bilder des japanischen Fernsehsenders NHK zeigten.

In mehr als 2,2 Millionen Haushalten des Landes fiel durch das Erdbeben zwischenzeitlich der Strom aus – was gerade in Kernkraftwerken schnell zur Gefahr werden kann, wie Professor Clemens Walther von der Universität Hannover im Interview mit dem Spiegel sagte. Walther ist der geschäftsführende Leiter des Instituts für Radioökologie und Strahlenschutz in Hannover. Wenn in Atomkraftwerken der Strom ausfällt, dann setzt in der Folge auch die Kühlung des Reaktorkerns aus. Und das ermöglicht eine Kernschmelze mit verheerenden Folgen.
Erdbeben in Fukushima: Brennelemente produzieren deutlich weniger Wärme
Clemens Walther betonte im Spiegel-Interview allerdings auch, dass die Situation in Fukushima heute eine ganz andere ist, als noch vor elf Jahren. Der entscheidende Unterschied: Keiner der sechs Reaktoren ist mehr in Betrieb. Reaktor 3 und 4 seien bereits vollständig leer geräumt. In den anderen Reaktoren lagern zwar noch Brennelemente, die auch nach wie vor gekühlt werden müssen, „allerdings längst nicht mehr so viel wie noch nach dem Unglück vor elf Jahren“, sagte Walther.
Tatsächlich stoppte infolge der schweren Erschütterungen vorübergehend das Kühlsystem für die Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente in den Reaktoren 2 und 5, wie lokale Medien unter Berufung auf den Kraftwerkbetreiber Tepco meldeten. Das radioaktive Material produziert laut Walther allerdings nur noch rund 0,4 Prozent der Wärme, die es noch direkt nach dem Abschalten der Reaktoren produzierte. Dass es hier nochmal zu einer Kernschmelze kommt, hält er daher für ausgeschlossen.
Gefahr einer Nuklearkatastrophe in Fukushima: Kraftwerk-Betreiber Tepco hat aufgestockt
Neben der Situation in den Reaktoren habe sich dem Experten zufolge aber auch die Situation der Anlage im Vergleich zu 2011 verändert. Das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi liegt zwar nahezu auf Höhe des Meeresspiegels, der Schutzwall und die Kaimauer im Hafen könnten aber dennoch gewaltige Wellen abwehren. Tepco ließ erst 2020 die äußere Kaimauer mit einer L-förmigen Betonmauer auf insgesamt elf Meter Höhe aufstocken.
Am Mittwoch (16.03.2022) ging vom Meer allerdings überhaupt keine Gefahr aus. Die japanischen Behörden hatten nach dem Erdbeben vor einer etwa ein Meter hohen Tsunami-Welle gewarnt – und die Warnung bereits wenige Stunden später wieder zurückgenommen. Die Flutwelle, die 2011 das Kraftwerk und alles in der Umgebung niederwalzte, war dagegen 14 Meter hoch.

Schweres Erdbeben in Fukushima: Was passiert, wenn ein Atomreaktor zusammenbricht
Bei einem Erdbeben der Stufe 7,4 werden im Umkreis des Epizentrums häufig auch Häuser zerstört und ganze Bauwerke fallen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Auch am Mittwoch wurden in der Region Fukushima zahlreiche Häuser zerstört. Laut Experte Clemens Walther sind die Reaktoren in Fukushima dafür ausgelegt, Erdbeben der Stufe 8 standzuhalten, 2011 haben hielten sie sogar Stufe 9 aus.
Dennoch seien die Reaktoren seit der Katastrophe vor elf Jahren lange nicht mehr so stabil, wie davor, erklärt Walther. Würden sie infolge des aktuellen, schweren Erdbebens nun zusammenbrechen, könnte durchaus Radioaktivität freigesetzt werden. Das wäre laut Walther „sehr hässlich“, insbesondere für die Menschen im Umkreis und den Arbeitenden in der Atomruine, sei allerdings derzeit wirklich nicht wahrscheinlich. Inwiefern das erneute Beben die Stabilität tatsächlich beeinflusst hat, müsse vor Ort untersucht werden.
Atomkraftwerk Fukushima Daiichi: Was passiert, wenn kontaminiertes Material im Meer landet?
Japan liegt im sogenannten „Ring of Fire“, einer Region um einen Großteil des Randes des Pazifischen Ozeans, in der Vulkanausbrüche und Erdbeben sehr häufig sind. Gerade in Atomkraftwerken sollten daher besondere Sicherheitsvorkehrungen mit Blick auf mögliche Naturkatastrophen getroffen werden.
Doch nicht nur die akuten Gefahren bereiten Grund zur Sorge: Seit 2011 kämpfen der Atomkraft-Betreiber und die Behörden auch nach Jahren noch mit der Entsorgung von gigantischen Mengen radioaktiv belasteten Wassers, gefährlichen Filterrückständen und Millionen Tonnen kontaminierter Erde* aus der Umgebung von Fukushima Daiichi. Bei einer weiteren Flutwelle besteht auch die Gefahr, dass die kontaminierten Stoffe beispielsweise ins Meer gespült werden und dort Schaden anrichten oder sich weiter verbreiten.
Nach dem Erdbeben in Fukushima: Kontaminierte Stoffe eher unbedenktlich
Der Nuklear-Experte Clemens Walter merkte im Spiegel-Interview an, dass in Japan beispielsweise hunderttausende schwarze Säcke mit kontaminierter Erde in direkter Küstennähe lagern. Die könnten bei einem Tsunami zerstört und mitgerissen werden. Allerdings seien die Abfälle nur leicht radioaktiv und es handele sich dabei nicht um Mengen, „die wir hier in Deutschland nachweisen könnten, oder die vor Ort schwere Schäden verursachen würden“, so Walther.
Ähnlich sieht es auch bei dem kontaminiertem Wasser aus Fukushima* aus, um das in Japan und seinen Nachbarländern bereits seit Jahren gestritten wird. Clemens Walther hält es für unwahrscheinlich, dass das Wasser bei einer Flutwelle aus den Tanks geschwemmt werden kann. Es sei nur nicht auszuschließen, dass es bei einem starken Erdbeben, wie es Fukushima am Mittwoch getroffen hat, vielleicht zu Beschädigungen und Rissen an den Behältern kommt. Und auch hier: „Das sind eher gering radioaktive Abfälle. [...] Die Menge ist aus Radio-ökologischer Sicht aufgrund der massiven Verdünnung im Meer unbedenklich“, erklärt der Experte.
Fukushima: Druckabfall in Reaktor 1 der Atomruine – „Keine erhöhte Strahlung“
In der Atomruine sei infolge des schweren Erdbebens außerdem der Druck im Sicherheitsbehälter des Reaktorblocks 1 zunächst angestiegen und dann bis unter den Stand von vor dem Beben abgefallen, berichtete der japanische Sender NHK. Der Betreiberkonzern Tepco sei aktuell noch dabei, die Ursache für den Druckabfall zu ermitteln. Reaktor 1 ist einer der drei Reaktorblöcke, die bei der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 schwer beschädigt worden waren. Die Messstationen auf dem Gelände zeigten aber keine erhöhten Strahlenwerte an, hieß es unter Berufung auf Tepco.
Ursprünglich sollte am Donnerstag auch ein Roboter zum Einsatz kommen, der den vor elf Jahren geschmolzenen Brennstoff in dem Reaktor aufspüren sollte. Der Einsatz musste wegen der Untersuchungen zum Druckabfall aber zunächst verschoben werden, hieß es. (iwe) *fr.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.